Die 90er

Wer heute durch Berlins Mitte läuft, hat kaum eine Vorstellung davon, wie der Ostteil der Stadt in den 90er-Jahren ausgesehen hat. Außer, er hat es erlebt. Als ich im Mai 1990 hier ankam, befand sich Berlin in einer wohl weltweit einzigartigen Situation: Mitten in Europa tat sich eine Art Niemandsland auf, das es zu entdecken galt. Der Reichstag ohne Kuppel und einsam auf weiter Flur. Davor alte Mauerteilsegmente und Weltkriegsschrott.

Einer meiner Fixpunkte zu dieser Zeit war das Kunsthaus Tacheles. Die Sprenglöcher in diesem alten jüdischen Kaufhaus, von dem nur die verrotteten Fassaden standen, waren schon gebohrt. In den Sand eingegrabene Busse, aufgetürmter Schrott, aus dem Kunst entstand – das Tacheles stand für das, was möglich war in den 90er-Jahren.

Als ich Straßen wie die Kastanienallee im Prenzlauer Berg erstmals sah, sah es hier aus wie kurz nach dem Krieg. Die Fassaden waren grau und kaputt. Teilweise waren da noch die Einschusslöcher von den Straßenkämpfen im April 1945. In dem besetzten Haus, in dem ich 1991 wohnte, bröckelten die verzierten Fenstersimse vor sich hin. Die Balkone konnte man nur auf eigene Gefahr betreten, ebenso die Teerdächer. Von dort aber hatte ich jedoch einen Blick über die Kastanienallee und ihre Seitenstraßen, der atemberaubend war.